Tradition & Zukunft

Geissen in der Val Medel: Gestern, heute - und morgen?

"Jeder hatte ein paar Geissen" - so war es noch um 1950 in der Val Medel, erinnert sich Linus Beeli aus Curaglia.1 Im Tal lebten überwiegend Bauernfamilien, viele hatten Schafe, Kühe und eben Geissen. Die Herden allerdings waren viel kleiner, kaum zu vergleichen mit heute: Wer vier Kühe hatte, sei ein Grossbauer gewesen, erzählt Linus Beeli, und bei den Geissen und Schafen waren 20 Tiere schon viel.

Im Sommer, wenn die Kühe auf der Alp waren, behielten die Bauern einige Ziegen im Tal und nutzten deren Milch zur Selbstversorgung. Aber auch Geissen gingen auf die Alp: Noch im Jahr 1955 wurden auf den Alpflächen der Gemeinde Medel/Lucmagn 822 Ziegen gesömmert, deren Milch in die Käseproduktion floss. Grössere Ziegenherden gab es zum Beispiel auf der Alp Sta. Maria, der Alp Stgegia und der Alp Sogn Gagl. Die Ziegen teilten sich die Alpflächen mit dem Grossiveh, auch auf der Alp Puzzetta weideten Ziegen zusammen mit Kälbern.

Geissen mit Durchgangsrecht

Zählte man zu den Alpziegen noch die "Heimziegen" in den Dörfern und Weilern hinzu, so lebten wohl an die 1'000 Geissen im Tal. Und dies über viele Jahrhunderte: Im Gemeindearchiv Medel/Lucmagn finden sich zum Beispiel Urkunden aus dem 17. Jahrhundert, welche den Ziegenherden das Durchgangsrecht für bestimmte Alpflächen zusichern. So durften die Ziegen von Cavardiras die Weiden der Alp Soliva betreten, und die Ziegenherde aus Curaglia hatte das Recht, in den oberen Lagen der Alp Plattas zu weiden.

Gern gesehen war das nicht immer. Und doch sorgte die wechselnde Beweidung mit Kühen, Schafen und Ziegen dafür, dass die Bauern sämtliche Weideflächen optimal ausnutzen konnten. Nichts blieb übrig, nichts ging verloren.

Vom Hof auf die Baustelle

Eine grosse Wende brachte das Jahr 1957. Damals begann der Bau der Kraftwerke Hinterrhein, ein Riesenprojekt, das für einige Jahre mehr als genug einträgliche Arbeit brachte (1959 arbeiteten knapp 3'400 Männer auf den Grossbaustellen!). Mehr und mehr Bauern begannen, dort ihr Geld zu verdienen. "In Ilanz fanden sie danach Arbeit, dann war der Bau der Lukmanierstrasse, damals gab es in Hülle und Fülle Arbeit", erzählt Linus Beeli.

Je mehr Geld die Leute zur Verfügung hatten, umso mehr hatten sie auch ganz neue Aussichten: Lebensmittel zu kaufen, statt sie selbst zu produzieren zum Beispiel. Besonders drastisch zeigt sich das im Ackerbau. Noch bis Mitte der 1960er Jahre war die Mühle in Curaglia in Betrieb, aber der überaus aufwendige Getreidebau wurde nach und nach aufgegeben.

Aufbruch ins 21. Jahrhundert

Die Geissen aber, die gingen nie ganz. Bauern im Nebenerwerb hielten sich ein paar Zeigen und Schafe, und um die Jahrtausendwende gab es im Tal immer noch ein knappes Dutzend Geissenbauern mit kleinen Herden von bis zu 50 Tieren. Dass man an ihre Zukunft glaubte, zeigt auch der Neubau der Alpgebäude auf der Alp Puzzetta im Jahr 2005. In jenem Sommer weideten hier 340 Geissen und lieferten Milch für die nun hochmoderne Alpkäserei.

Fünf Jahre später waren es allerdings nur noch halb so viele Tiere. Was war passiert? Es kam wohl einiges zusammen. Der Ausbruch der Viruskrankheit CAE dezimierte die Ziegenbestände. Der eine oder andere mag daraufhin beschlossen haben, die Geissenhaltung dranzugeben. Und die Probleme, mit denen gerade kleine Bauern überall zu kämpfen haben, gibt es auch hier: fehlender Nachwuchs zum Beispiel, zu viel Arbeit, die auf zu wenigen Schultern lastet, ein mageres Einkommen. Und nun ja, ein Prestige-Tier ist die Geiss eben auch nicht.

Die Alpkorporation Puzzetta wusste sich jedoch zu helfen und kooperiert seit 2010 mit dem Bergwaldprojekt. Zahlreiche Freiwillige helfen seitdem mit, die Ziegenalp zu bewirtschaften und die Weideflächen zu erhalten. Die Zahl der Ziegen stieg wieder an. Die Gründung des Vereins la caura im Jahr 2014 brachte weiteren Schwung ins Tal. Der Verein will die Geissenbauern direkt unterstützen, zum Beispiel mit fairen Preisen für ihre Produkte. Auch die Veredelung zu Käse- und Fleischspezialitäten, Leder- und Fellwaren durch regionale Betriebe trägt dazu bei, die Wertschöpfung im Tal zu halten und Arbeitsplätze zu sichern.

Zaghaft rosige Aussichten

Vor gut 100 Jahren freuten sich die Feriengäste im damaligen Hotel Lukmanier in Curaglia jeden Sommerabend auf ein besonderes Spektakel: die Geissenherde, die von den Bergweiden zurück ins Tal galoppierte. Heute kommen Touristen, die ein Ziegentrekking mit Packböcken gebucht haben. Aber die Ziegen sind mehr als nur eine Touristenattraktion. Seit 2014 wird nicht nur auf der Alp, sondern im Winter und Frühling auch in Curaglia Geisskäse hergestellt, der in kurzer Zeit ausverkauft ist. Und wenn die Ziegen dabei helfen, verbuschte Weideflächen zurückzugewinnen und Landschaften zu bewahren, welche die Menschen über Jahrhunderte geschaffen haben, dann erhalten sie damit auch einen attraktiven und wertvollen Lebens- und Erholungsraum für kommende Generationen.

Text: Verena Bühl

 

 

Literaturhinweise:

 

Tabea Sarah Baumgartner: "Via Lucmagn" - Orte der Geschichte entlang eines Passweges. Seminararbeit/Proseminararbeit, Universität Basel, Mai 2014.

 

Ivo Bösch: Landschaftspflege mit Ziegen und moderner Architektur: die neue Alp Puzzetta im Val Medel. Bündner Monatsblatt 2005, Heft 2.

 

Carli Giger: Die Vieh- und Weidealpen an der Nordrampe des Lukmanier: eine kulturgeschichtliche und alpwirtschaftliche Abhandlung. Bündner Monatsblatt 1955, Heft 8-9.

 

Christian Weber: Ziegen als Landschaftsgärtner. Bauern Zeitung, 13. September 2013.